Neuer Streich des Zensors
In juristischen Texten gilt
es als untunlich, Kraftausdrücke zu verwenden.
Wer etwa in Klausuren oder anderen Ausarbeitungen schreibt, dieser oder
jener Sachverhalt sei „zweifelsfrei“ juristisch einzuordnen, erweckt damit
Zweifel an seinen Fähigkeiten. Eine ebensolche verbale Kraftmeierei und damit
juristischer Unfug ist der Begriff „offensichtlich“. Zu den wenigen Offensichtlichkeiten,
die es wirklich gibt, gehört die Tatsache, dass der Regen von oben nach unten fällt,
und nicht umgekehrt. Wenn der A dem B ins Gesicht schlägt, ist das offensichtlich
keine Brandstiftung. Die sonstige rechtliche Einordnung dieses Schlags ist
demgegenüber alles andere als offensichtlich. Je nach dem, ob der Täter ein
Werkzeug einsetzte oder nicht, handelt sich um eine einfache oder eine
gefährliche Körperverletzung. Davon wiederum hängt ab, ob ein Strafantrag zu
stellen ist oder nicht. Von den Tatfolgen hängt ab, ob es ggfs. eine schwere
Körperverletzung ist. Für die Strafbarkeit schließlich kommt es auf die
Situation an, in der der Schlag fiel, auf das Verhalten des Geschädigten und
vieles mehr. Wenn es sich um Notwehr handelt, wird der A freigesprochen. Gibt
es keinen Freispruch, kann die Strafe wegen einer vorangegangenen Provokation
des B gemildert werden usw usf. Man hüte
sich also vor der Benutzung des Wortes „offensichtlich“ im Recht.
Nichts destotrotz hat der Zensor auf dem Thron des Justizministeriums, Heiko
Maas, einen Entwurf für ein sogenanntes Netzwerkdurchsetzungsgesetz (welch
Wortungeheuer) vorgelegt, mit dem Betreiber sozialer Netzwerke verpflichtet
werden sollen, „einen offensichtlich rechtswidrigen Inhalt innerhalb von 24
Stunden nach Eingang“ einer Beschwerde zu löschen (BT-Drs. 18/12356 - http://dip21.bundestag.de/dip21/btd/18/123/1812356.pdf). Angebliches
Ziel des Gesetzes ist der Kampf gegen Hasspostings im Internet. Die
Nichtbefolgung wird mit drakonischen Geldbußen von bis zu 5 Millionen (!) Euro
belegt. Hat schon das obige Beispiel gezeigt, wie schwierig es ist, einen
einfach erscheinenden Sachverhalt juristisch korrekt auszulegen, wird klar,
dass es bei Meinungsäußerungen ungleich schwieriger ist. Das liegt an dem
Grundrecht auf Meinungsfreiheit gemäß Art. 5 GG, das in solchen Fällen zu
beachten ist. Die Obergerichte und das Bundesverfassungsgericht haben in einer
umfangreichen Judikatur ein ausdifferenziertes System entwickelt, wann eine
Äußerung strafbar ist und wann sie wegen des Rechts auf freie Meinungsäußerung
hinzunehmen ist. Zu prüfen ist dabei unter anderem, ob die Äußerung privat oder
öffentlich fällt, ob sie Teil einer öffentlichen Debatte, also des politischen
Diskurses, ist, ob sie die Reaktion auf eine vorangegangene andere Äußerung
ist, ob sie in sachlicher Kritik besteht oder in persönlicher Diffamierung, ob
hinter der Kritik an einer Person in Wahrheit die Kritik an einer Sache steht,
sie fragt nach dem Gesamtzusammenhang und verbietet das Abstellen auf
willkürlich herausgegriffene Worte oder Passagen. Ein breites öffentliches Echo
rief der Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 10. Oktober 1995 „Soldaten
sind Mörder“ hervor (BVerfGE 93, 266ff). Juristischer Kernpunkt dieser
Entscheidung war, dass Äußerungen schon auf der Auslegungsebene als nicht
strafbar angesehen werden müssen, wenn es mehrere Deutungsmöglichkeiten gibt
und sich darunter eine straflose befindet. Innerhalb der öffentlichen Debatte
gilt ohnehin eine Vermutung zugunsten der freien Rede. Mit anderen Worten: was
als Meinungsäußerung rechtswidrig ist oder nicht, kann und muss in einem nach
den Regeln der jeweiligen Prozessordnung zu führenden Gerichtsverfahren
gegebenenfalls über mehrere Instanzen geklärt werden. Weder kann noch darf es
einem Medienunternehmen aufgebürdet werden, in einem Schnellverfahren, welches
allen rechtlichen Garantien spottet, solches zu entscheiden. Was Herr Maas
einführen will, ist nicht die Bekämpfung von Hasspostings sondern die
standrechtliche Erschießung des freien Wortes.
Angesichts dessen entpuppt
sich der Gesetzentwurf als juristische Missgeburt. Seine juristische
Bedürfnislosigkeit kann den Minister, der nach eigener Auskunft auf seiner
Homepage noch nie im Leben im eigentlichen Sinne juristisch tätig war, also als
Richter, Anwalt o.ä. (außer im Referendariat), nicht entlasten: das Recht auf freie Meinungsäußerung sollte
doch dem gröbsten juristischen Laien bekannt sein. Außerdem hat er im
Ministerium sachkundige Mitarbeiter. Der wissenschaftliche Dienst des Deutschen
Bundestages hat denn auch in einem Gutachten vom 12. Juni 2017 (hier abrufbar: https://www.steinhoefel.com/2017/06/neue-blamage-fuer-maas-wissenschaftlicher-dienst-netzwerkdurchsetzungsgesetz-verfassungswidrig.html/print/)
massive verfassungsrechtliche Bedenken gegen das Gesetz erhoben. Es gipfelt in
dem Satz: „Dieser Eingriff [in das Grundrecht, d.V.] erscheint nach Abwägung
der erörterten Belange nicht verfassungsrechtlich gerechtfertigt zu sein.“
Es ist denn auch nicht
Maasens Unkenntnis sondern seine Freiheitsfeindschaft, die bei dem
Gesetzentwurf die Feder geführt hat. Denn es geht nicht darum, ein
Rechtsproblem zu lösen. Es geht darum, facebook und andere mundtot zu machen,
und noch viel mehr geht es darum, die in den letzten Jahren erfolgte
Demokratisierung der Öffentlichkeit, die die sozialen Netzwerke erst ermöglichten,
wieder rückgängig zu machen. Im vordigitalen Zeitalter konnte die Lügenpresse
mittels ihrer sogenannten Türwächterfunktion bestimmen, was gelesen werden
konnte. Was nicht genehm war, erschien nicht. Das Kartell aus Meinungsmachern,
Politkern und Lobbyisten hatte auf diese Art eine indirekte Meinungsdiktatur
errichtet. Sie wurde mit zunehmender Verbreitung des Internets unterlaufen. Den
bisherigen Schlusspunkt bilden Online-Programme, wie eben facebook, wo nicht
nur sprichwörtlich Jeder ein Profil einrichten kann, sondern wo über eine
leicht handhabbare Softwaretechnik auch schnelle und direkte wechselseitige
Kommunikation möglich wurde – und mit ihr wieder echte Redefreiheit. Dass das
den Machthabern ein Dorn im Auge sein musste, liegt auf der Hand, und dass es gerade
Herrn Maas in Alarmbereitschaft versetzte, war zu erwarten. Allerdings
offenbarte sich wieder einmal die jeder Übertreibung innewohnende Dialektik.
Der demokratiefeindliche Impetus der ministeriellen Demagogenverfolgung lag so offensichtlich (!) zu Tage, dass er
zahlreiche Widerstände und Kritiker aus Reihen der Wirtschaft, der Juristen
aber auch journalistischer Verbände usw. auf den Plan rief. Hoffen wir, dass
dem Zensurnapoleon dadurch sein Waterloo bereitet wird.