Montag, 5. Mai 2025

 

Der Volksbegriff des Grundgesetzes


Eine kurze Skizze zur Verfassungslage - von RA u. Fachanwalt f. Verwaltungsrecht Dr. Björn Clemens

Am 02.05.2025  hat das Bundesamt für Verfassungsschutz bekanntgegeben, dass die AfD nunmehr als "gesichert rechtsextrem" zu gelten habe. Wichtigster Anknüpfungspunkt ist laut seiner Pressemeldung vom selben Tag wieder einmal der ethnische Volksbegriff. Das muss verfassungsrechtlich eingeordnet werden.


Wer in Deutschland das Wort Volk benutzt, und das auch noch in politischen Zusammenhängen, läuft Gefahr, juristische Probleme zu bekommen. Insbesondere wird die tatsächliche oder unterstellte Forderung, an einem ethnisch homogenen Volksbegriff als Grundlage der Staatsbürgerschaft festzuhalten, als verfassungswidriger Verstoß gegen die Menschenwürde angesehen. Wer solches offen in sozialen Netzwerken verkündet oder Gruppierungen angehört oder unterstützt, die entsprechende Forderungen erheben oder denen das nachgesagt wird, kann auf verschiedenste Weise belangt werden. Die Palette staatlicher Maßnahmen gegen die Bürger reicht von Waffenverboten über Disziplinarmaßnahmen gegen Beamte, die Aberkennung des luftsicherheitsrechtlichen Zuverlässigkeitsstatus bis hin zu Aufenthaltsuntersagungen. Dagegen muss sich beispielsweise der österreichische IB-Aktivist Martin Sellner derzeit vor dem VG Sigmaringen wehren, nachdem er im März 2024 durch die Stadt Potsdam bereits ein Einreiseverbot für ganz Deutschland erhalten hatte, das das VG Potsdam aber aufhob.[1] Für politische Parteien kann eine Einstufung als verfassungsfeindlich existenzbedrohend sein, da sie gemäß Artikel 21 Absatz 2 GG verpflichtet sind, auch in ihren Zielen der FDGO zu entsprechen. Falsches Denken kann in einem Verbot enden.[2] Für Vereine gilt das gemäß Art. 9 GG Abs. 2 GG ebenfalls. Der Compact-Verlag sieht sich dem seit 2024 ausgesetzt, und die AfD wird damit ständig bedroht. Durch den Verfassungsschutz wurde sie als extremistischer Verdachtsfall eingeordnet, unter anderem wegen des Festhaltens an dem stigmatisierten Volksbegriff. Zwei Gerichtsinstanzen, das VG Köln[3] und das OVG Münster[4] bestätigten die Einstufung. Im Berufungsurteil heißt es hierzu:[5]  

„Es besteht der begründete Verdacht, dass es den politischen Zielsetzungen jedenfalls eines maßgeblichen Teils der Klägerin entspricht, deutschen Staatsangehörigen mit Migrationshintergrund nur einen rechtlich abgewerteten Status zuzuerkennen, weil zu ihren zentralen politischen Vorstellungen gehört, dass es eine von der Staatsangehörigkeit unabhängige „ethnisch-kulturelle“ Volkszugehörigkeit gibt, die von entscheidender Bedeutung für die Bewahrung der deutschen Kultur und Identität ist und es deshalb rechtfertigt, bei rechtlichen Zuordnungen danach zu unterscheiden, ob und gegebenenfalls aus welchem Kulturraum deutsche Staatsangehörige oder deren Eltern zugewandert sind. Dies stellt eine nach Art. 3 Abs. 3 GG unzulässige Diskriminierung aufgrund der Abstammung dar, die mit der Menschenwürdegarantie des Art. 1 Abs. 1 GG nicht zu vereinbaren ist.

 

Dabei steht außer Frage, dass bei der Bestimmung des „Volkes“ im Sinn von Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG ethnischen Zuordnungen keine exkludierende Bedeutung zukommt. Das Grundgesetz überlässt es dem Gesetzgeber, Erwerb und Verlust der Staatsangehörigkeit zu regeln. Danach kann der Gesetzgeber im Staatsangehörigkeitsrecht maßgeblich an das Abstammungsprinzip oder die deutsche Volkszugehörigkeit im Sinn von Art. 116 Abs. 1 GG anknüpfen. Insbesondere bei einer erheblichen Zunahme des Anteils der Ausländer an der Gesamtbevölkerung des Bundesgebiets kann er aber auch dem Ziel einer Kongruenz zwischen den Inhabern demokratischer politischer Rechte und den dauerhaft staatlicher Herrschaft Unterworfenen durch eine Erleichterung des Erwerbs der deutschen Staatsangehörigkeit für Ausländer, die sich rechtmäßig in der Bundesrepublik Deutschland aufhalten, Rechnung tragen. Wer die deutsche Staatsangehörigkeit erwirbt, ist aus Sicht der Verfassung unabhängig von seiner ethnischen Herkunft Teil des Volkes.“

Diese Rechtsprechung führt sich auf das Urteil des Bundesverfassungsgerichts im zweiten NPD-Verbotsverfahren vom 17.01.2017 zurück. Dort liest man unter anderem:

„Menschenwürde ist egalitär; sie gründet ausschließlich in der Zugehörigkeit zur menschlichen Gattung, unabhängig von Merkmalen wie Herkunft, Rasse, Lebensalter oder Geschlecht (vgl. Isensee, in: Merten/Papier, HGRe, Bd. IV, 2011, § 87 Rn. 168). Dem Achtungsanspruch des Einzelnen als Person ist die Anerkennung als gleichberechtigtes Mitglied in der rechtlich verfassten Gemeinschaft immanent (vgl. Herdegen, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 1 Abs. 1 Rn. 120 <Mai 2009>). Mit der Menschenwürde sind daher ein rechtlich abgewerteter Status oder demütigende Ungleichbehandlungen nicht vereinbar (vgl. Höfling, a.a.O., Art. 1 Rn. 35)….[6]

Im Weiteren stellt es fest, dass ein an ethnischen Kategorien orientierter Volksbegriff mit der Menschenwürde unvereinbar sei.[7] Die Eindeutigkeit seines Verdiktes steht im Gegensatz zum Grundgesetz, denn im vom OVG Münster in Bezug genommenen Art. 116 heißt es in Absatz 1:

„Deutscher im Sinne dieses Grundgesetzes ist vorbehaltlich anderweitiger gesetzlicher Regelung, wer die deutsche Staatsangehörigkeit besitzt oder als Flüchtling oder Vertriebener deutscher Volkszugehörigkeit oder als dessen Ehegatte oder Abkömmling in dem Gebiete des Deutschen Reiches nach dem Stande vom 31. Dezember 1937 Aufnahme gefunden hat.“ [H.d.V.]

Während das Bundesverfassungsgericht den im Grundgesetz vorhandenen Begriff der Volkszugehörigkeit für seine Entscheidung schlicht ignoriert[8], verwickelt sich das OVG Münster in einen bemerkenswerten Selbstwiderspruch. Denn zum einen gesteht es dem Gesetzgeber ein Wahlrecht (!) zu, bei der Bestimmung des Staatsbürgerrechts an das Abstammungsprinzip bzw. die deutsche Volkszugehörigkeit oder an die faktische Gesamtbevölkerung anzuknüpfen. Zum anderen sieht es eine politische Zielsetzung als verfassungsfeindlich an, die aus ethnisch-kulturellen Differenzen staatsbürgerrechtliche Folgerungen zieht.  Selten hat sich eine Argumentation so widerlegt wie diese. Denn wenn es das Recht des Gesetzgebers ist, die Staatszugehörigkeit aus der Volkszugehörigkeit abzuleiten, dann folgt daraus begriffsnotwendig, dass eine politische Partei, die als gegenwärtiger oder künftiger Teil des Gesetzgebers fungiert, ebenso berechtigt ist, entsprechende Forderungen zu erheben und öffentlich zur Debatte zu stellen. Sie kann demnach nicht verfassungsfeindlich sein. In seiner argumentativen Inkonsequenz hat das Gericht mit erfreulicher, aber womöglich nicht bedachter, Deutlichkeit ausgesprochen, dass Volkszugehörigkeit und Staatsbürgerschaft nicht gleichzusetzen sind. Daher soll im folgenden versucht werden, die Begriffe zu ordnen.


Volk im Staatsorganisationsrecht

Im Grundgesetz taucht der Volksbegriff an unterschiedlichen Orten auf. In der Präambel wird konstatiert, dass es, das GG, nunmehr, nach der Vereinigung West- und Mitteldeutschlands für das gesamte Deutsche Volk gelte. In Art. 1 Absatz 2 bekennt sich dieses Volk zu den „unverletzlichen“ und „unveräußerlichen“ Menschenrechten. Schließlich erscheint es in der organisatorischen Fundamentalnorm des Art. 20 Absatz 2: 

            „Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus.“

Damit wird „das“ Volk zum staatlichen Souverän erklärt, was gemäß Art. 79 Absatz 3 GG als unabänderlich gilt. Nicht einmal ein einstimmiger Beschluss des Bundestages könnte die Volkssouveränität aufheben. Als Souverän wird „Volk“ zum Zentralbegriff der gesamten Verfassungsordnung. Durch die Kuppelung Volk gleich Staatsgewalt wird Volk als Träger, und zwar als alleiniger, staatlicher Rechte definiert. Daraus folgt, dass Volk insoweit als Gesamtheit der Staatsbürger zu verstehen ist, denn Rechte im Staat kann nur ausüben, wer Teil des Staates ist, und wenn das Volk die höchsten Rechte besitzt, kann insoweit nur das Staatsvolk gemeint sein. Das wird durch diejenigen vorangehenden Grundrechte bestätigt, in denen sich der Begriff „Deutsche“ findet, denen das entsprechende Recht vorbehalten ist, zum Beispiel die Versammlungsfreiheit. Im Gegensatz dazu kennt das Grundgesetz auch Jedermannsrechte wie die Meinungsfreiheit. Auch eine solche Differenzierung ergibt nur einen Sinn, wenn man als „Deutsche“ die Inhaber der Staatsbürgerschaft versteht, da Staatsbürger in Konsequenz des eben genannten Artikels 20 alle Rechte haben, demnach auch alle Grundrechte, was für bloße Bewohner nicht gilt. Nach der von Georg Jellinek[9] begründeten Drei-Elemente-Lehre setzt sich der Staat aus Staatsvolk, verstanden als Staatsbürger, Staatsgebiet und Staatsgewalt zusammen. Mit all dem ist aber nur eine funktionale Rechtsstellung beschrieben. Wer Teil dieses Volkes ist, wer also Staatsbürger werden kann, ist damit nicht gesagt.   


Volk als soziologischer Begriff

Dazu bringt der zuvor genannte Art. 116 Aufschluss. Seine bemerkenswerte Formulierung knüpft an die klassische Auffassung vom Volk, die wahrscheinlich jeder intuitiv im Sinn hat, wenn der Begriff aufkommt. Der Historiker Friedrich Meinecke formulierte es wie folgt:

„Gemeinsamer Wohnsitz, gemeinsame Abstammung – oder genauer gesagt, da es keine im anthropologischen Sinne rassenreinen Nationen gibt –, gemeinsam oder ähnliche Blutmischung, gemeinsame Sprache, gemeinsames geistiges Leben, gemeinsamer Staatsverband oder Föderation mehrerer gleichartiger Staaten – alles das können wichtige und wesentliche Merkmale einer Nation sein.“[10]

Ähnliches kann man erstaunlicherweise auch in einem Lehrbuch des nachmaligen Bundespräsidenten Roman Herzog[11] lesen, und wenn der berühmte Staatsrechtler der 20er und 30er Jahre des 20. Jahrhunderts Carl Schmitt den Staat die politische Einheit eines Volkes nennt[12], ist damit ausgedrückt, dass sich der Staat vom Volk ableitet, und nicht umgekehrt. Schmitt ist es denn auch, der knapp aber klar feststellt, dass es ein Volk vor der Verfassung gibt, also, dass erst das Volk besteht, das sich einen Staat konstituiert.  Das verlangt aber denknotwendig eine soziologische Eigenheit. Die Staatsbürgerschaft kann nach diesem Verständnis nicht der konstituierende Begriff sein. Das wird durch eine Überlegung aus dem Völkerrecht gestützt. Während des Ersten Weltkrieges brachten die damaligen Entente-Mächte den Begriff des Selbstbestimmungsrechts der Völker auf. Das taten sie selbstverständlich nicht, um eine gerechtere Weltordnung zu errichten, sondern als Propaganda-Parole, um Österreich-Ungarn, den Verbündeten des Deutschen Reichs, zu zersetzen. Denn die Habsburgermonarchie galt als Vielvölkerstaat, der dadurch gekennzeichnet ist, dass unter einer Staatsbürgerschaft zahlreiche „Völker“ zu Staatsbürgern zusammengefasst sind.[13] Im Falle Österreich-Ungarns wäre es demnach unsinnig gewesen, zu sagen, es bestehe neben Serben, Kroaten, Tschechen, Slowenen, Ungarn usw. auch aus Österreichern. Österreicher waren sie alle. Die entsprechende Volkskategorie war insofern die der Deutschen, die ihrem nach dem Krieg verbliebenen Rumpfstaat im ersten Staatsgrundgesetz von 1918 den Namen „Deutsch-Österreich“ gaben und den Anschluss an das Deutsche Reich forderten. Auch die Deutschen in der neu geschaffenen Tschechoslowakei bekannten sich als eben das: (Sudeten-) Deutsche, und nicht etwa als Österreicher oder Böhmen. All das verdeutlicht, dass Volk etwas kategorial anderes ist als Staatsbürger.  

Das aber leugnen die Vertreter der Gegenwartslehre. Sie meinen, aus dem ersten Halbsatz des Artikels 116 „Deutscher ist, wer die deutsche Staatsbürgerschaft besitzt“, folgern zu können, dass sich das Volk an sich (und ausschließlich) von den Bürgerechten ableite und es daher dem Gesetzgeber freistehe, nach Belieben den Kreis der Volksangehörigen zu erweitern (nicht aber zu verringern, denn dagegen spreche die Menschenwürde, siehe oben). Die Änderung des Staatsbürgerschaftsrechts bewirkt also die Veränderung des Volkes und somit des Souveräns selbst. Genau das geschah erstmals im Jahre 1999, als das bis dahin geltende Reichs- und Staatsangehörigkeitsgesetz durch das Staatsangehörigkeitsgesetz abgelöst wurde. Damit wurde das Abstammungsprinzip durch das Bodenprinzip ersetzt. Deutscher ist nun, wer in der Bundesrepublik geboren wird, egal woher seine Vorfahren kommen. Seitdem wurde das Gesetz immer wieder verändert, im Propagandasprech der Verantwortlichen „modernisiert, um die Möglichkeiten zur Einbürgerung umfassend zu erweitern. Jüngst geschah das 2024, um einen neuen Überfremdungsschub herbeizuführen. Über die ständige Reform des Staatsbürgerrechtes die Änderung bzw. partielle Ersetzung des Souveräns zu erwirken, ist aber faktisch nichts anderes, als ein staatspolitischer Umsturz, der das Prinzip der Volkssouveränität auf kaltem Wege außer Kraft setzt.

Darüber hinaus steht einem solchen Vorgehen Art. 79 Absatz 3 GG entgegen, wonach die in Art. 20 GG niedergelegten Grundsätze „Ewigkeitswert“ genießen, nicht, auch nicht einstimmig geändert werden können. Das mindeste, was bei einer Entscheidung solcher Tragweite zu verlangen wäre, wäre, dass der Souverän dazu befragt würde, also eine Volksabstimmung der bisherigen Staatsbürger stattfände. Richtigerweise hielten zwei der führenden deutschen Staatsrechtler, die Professoren Hans-Jürgen Isensee und Rupert Scholz, den Anschlag auf das bis dahin geltende Recht im Jahre 1999 für unzulässig. Isensee sprach sogar von einem Staatsstreich durch das Parlament.[14] Mit ihrer Kritik blieben die beiden Juristen ungehört. Aber in der Sache hatten sie den Nagel auf den Kopf getroffen. Das bedeutet, dass nahezu jede Einbürgerung und Verleihung der Staatsbürgerschaft an Fremde seit 1999 verfassungswidrig war bzw. ist, und zwar in einer Offensichtlichkeit, dass man sie für nichtig halten könnte.


Das Wahrungsgebot

Ein abschließender Blick auf eine der wenigen verfassungsgerichtlichen Entscheidungen zum Volksbegriff unterstreicht die vorgenannten Überlegungen. Es handelt sich um den Teso-Beschluss vom 21. Oktober 1987.[15] Dem lag die Frage zugrunde, ob ein in der DDR aufgewachsener Bürger, der über seine Mutter (auch) die italienische Staatsbürgerschaft besaß, nach der Übersiedlung in die Bundesrepublik „Deutscher“ im Sinne des Art. 116 GG sei. Im Schwerpunkt ging es um das Verhältnis der Staatsbürgerschaft der DDR zu der der Bundesrepublik, bzw. um die Frage einer einheitlichen Staatsbürgerschaft, unabhängig von dem Bestehen zweier deutscher Staaten. Bekanntlich vertrat die alte BRD bis zuletzt den Standpunkt der einheitlichen (deutschen) Bürgerschaft, weshalb DDR-Flüchtlinge in der Bundesrepublik nicht eingebürgert wurden, sondern automatisch als Deutsche und damit als bundesdeutsche Staatsbürger galten. Aus dem Wiedervereinigungsgebot des Grundgesetzes leitete das Bundesverfassungsgericht daher ein Wahrungsgebot bezüglich der Staatsangehörigkeit ab. Der erste Leitsatz des Beschlusses lautet:

„Aus dem Gebot der Wahrung der Einheit der deutschen Staatsangehörigkeit (Art. 116 Abs. 1, Art. 16 Abs. 1 GG), das eine normative Konkretisierung des im Grundgesetz enthaltenen Wiedervereinigungsgebots ist, folgt, dass dem Erwerb der Staatsbürgerschaft der Deutschen Demokratischen Republik für die Rechtsordnung der Bundesrepublik Deutschland in den Grenzen des ordre public die Rechtswirkung des Erwerbs der deutschen Staatsangehörigkeit beizumessen ist.“

In der Begründung führt das Gericht sodann aus:

„Aus dem Wahrungsgebot folgt insbesondere die verfassungsrechtliche Pflicht, die Identität des deutschen Staatsvolkes zu erhalten. Diese Pflicht ist nicht statisch auf den Kreis derjenigen Personen begrenzt, die bei Inkrafttreten des Grundgesetzes deutsche Staatsangehörige waren, und auf jene, die später zufolge des Reichs- und Staatsangehörigkeitsgesetzes die deutsche Staatsangehörigkeit erworben haben und noch erwerben werden.“

„Die im Wiedervereinigungsgebot des Grundgesetzes enthaltene Wahrungspflicht gebietet es auch, die Einheit des deutschen Volkes als des Trägers des völkerrechtlichen Selbstbestimmungsrechts nach Möglichkeit zukunftsgerichtet auf Dauer zu bewahren.“

Die Verfechter der multikulturellen Auflösung behaupten nun, dass aus der Anknüpfung der Entscheidung an das Staatsbürgerrecht (und nicht an das Volkstum) dem Abstammungsprinzip vom Gericht eine Absage erteilt worden sei.[16] Aber das ist ein Denkfehler. Denn das Gericht verlangt, die Identität des Staatsvolkes in der Form zu erhalten, wie es sie durch das RuStG von 1913 seinerzeit besaß. Wenn also von einer Identität in Bezug auf das Staatsbürgerrecht gesprochen wird, dann ist damit eine Identität auf das in dem damaligen Staatsbürgerrecht festgeschriebene Abstammungsprinzip inbegriffen. Ein anderes Urteil[17] gesteht allerdings dem Gesetzgeber zu, über das Staatsbürgerrecht die Zusammensetzung des Staatsvolkes zu ändern. Es setzt sich jedoch nicht mit den grundlegenden Fragen von Abstammungsvolk und Staatsvolk auseinander und denkt auch eher an erleichterte Einbürgerungen als an eine komplette Revision der Staatsbürgerschaft. Dabei ist anzumerken, dass noch nie, auch im Kaiserreich die Staatsbürgerschaft einem monolithischen, völkischen Block entsprach. Grundsätzlich spricht auch nichts dagegen,  sie in Maßen unabhängig von der Ethnie zu vergeben, es sei denn, damit soll der große Austausch zulasten der autochthonen Bevölkerung juristisch abgesichert werden.


Fazit:

Das heißt, dass vom ursprünglichen deutschen, auch bundesdeutschen, Staatsbürgerrecht der ethnische Volkstumsbegriff vorausgesetzt und dieser in jenem enthalten ist. Seine Abschaffung über die einfachgesetzliche Änderung der Staatsbürgerschaft im Jahre 1999 war ein verfassungswidriger, rechtstechnischer Taschenspieletrick, der die Stellung des Staatsvolkes im Verfassungsgefüge ignorierte.

Wenn man der hier vertretenen Auffassung folgt, ergibt sich eine interessante politische Konsequenz: Parteien wie die AfD oder Gruppen wie die IB oder andere sind es nämlich dann, die auf dem Boden des Grundgesetzes stehen. Die Faesers, Haldenwangs und wie sie heißen, sind es hingegen nicht.



[1] Klage gegen das Aufenthaltsverbot: VG Karlsruhe 9 K 4719/24, zum Einreiseverbot von Potsdam siehe: legal tribune  https://www.lto.de/recht/hintergruende/h/martin-sellner-einreiseverbot-aufgehoben-vg-potsdam.

[2] Umfassend zur Thematik eines ideologisch begründeten Parteiverbots: Schüßlburner, Demokratie-Sonderweg Bundesrepublik, Königstein 2004.

[3] VG Köln Urteil 13 K 326/21 vom 08.03.2021

[4] OVG Münster Urteil 5 A 1218/22 vom 13.05.2024. Die urteile sind bei Eingabe der Aktenzeichen leicht im Netz zu finden. Auch im Falle von Compact bildet der völkische Volksbegriff einen Schwerpunkt der Vorwürfe. 

[5] Randnummern 206 und 207.

[6] Rn. 541.

[7] Rnrn. 688 bis 691.

[8] Grundlegende Kritik an dem Urteil bei Thor v. Waldstein, Wer schützt die Verfassung vor Karlsruhe, 2017.

[9] Allgemeine Staatslehre, 3. Auflage, 1928, S. 394ff.

[10] Friedrich Meinecke, Weltbürgertum und Nationalstaat, 2.  Aufl., München und Berlin, 1911, S. 1.

[11] Allgemeine Staatslehre, Frankfurt a.M., 1971, S. 43.

[12] Verfassungslehre, 8. Aufl., 1993, S. 3. Im Begriff des Politischen, erste Seite des Haupttextes, nennt er den Staat den Status (zustand) des in territorialer Geschlossenheit organisierten Volkes.  

[13] Das erfährt der Leser sogar bei Wikipedia, Stichwort Vielvölkerstaat.

[14] Scholz/Uhle, NJW 1999, 1510ff; Isensee, Die Welt (sic!), 06.01.1999.

[15] BVerfGE 77, 137.

[16] So die Frankfurter Rundschau in gewohnt pseudoironisch-herablassenden Stil am 07.01.2019,  https://www.fr.de/politik/angeblicher-verfassungsauftrag-11024520.html.

[17] BVerfGE 83, 37 vom 31.10.1990..

Freitag, 18. Oktober 2024

Marie-Therese Kaiser: OLG verwirft Revision gegen Urteil wegen Volksverhetzung 


Verfassungsbeschwerde eingelegt


Am 19. September 2024 hat das OLG Celle, Beschluss NZS  2 ORs 103/24, die Revision von Marie-Therese Kaiser gegen ein Urteil des Landgerichts Verden/A vom Mai dieses Jahres verworfen. Die Influencerin und AfD-Politikerin war in der Berufungsinstanz zu 100 Tagessätzen a 60 Euro wegen Volksverhetzung verurteilt worden. Gegenstand des Verfahrens war ein Facebook-Post, den Kaiser im Vorfeld der Bundestagswahl 2021 als Direktkandidatin für den Wahlkreis Stade/Rotenburg veröffentlicht hatte. Darin hatte sie unter anderem mit der provokanten Frage

"Willkommenskultur für Gruppenvergewaltigungen?"

die Gefahren der ungezügelten Aufnahme von Asylbewerbern thematisiert, da nachweislich ein überproportional hoher Anteil bestimmter Gruppen, wie etwa Afghanen an bestimmten Delikten, wie etwa Gruppenvergewaltigungen beteiligt sind. Kaiser hatte ihre Aussage mit umfangreichen Nachweisen aus gängigen Zeitungen und amtlichen Statistiken belegt. Die beiden Vorinstanzen, also das LG Verden, wie auch schon das Amtsgericht Rotenburg/W meinten dessen ungeachtet, daraus ableiten zu können, die Angeklagte hätte pauschal sämtlichen afghanischen Flüchtlingen oder Fluchtwilligen unterstellt, sie begingen solche Straftaten.

Dem ist das Oberlandesgericht Celle nunmehr in einer bemerkenswert schmallippigen Entscheidung beigetreten. Das Urteil des LG Verden lasse keinen Rechtsfehler zum Nachteil der Angeklagten erkennen, heißt es dort zunächst lapidar. Sodann ergänzt der Senat,

„dass sich dem Facebook-Post der Angeklagten bei einer Gesamtbetrachtung unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalles aus der Sicht eines unvoreingenommenen und verständigen Durchschnittspublikums auch im Lichte von Art. 5 GG im Kern allein die Aussage entnehmen lässt, dass die aus Afghanistan geflüchteten und fluchtbereiten Personen Gruppenvergewaltigungen begehen.“ (H.d.V.)

Angesichts des Gesamtkontextes und des Umfanges der Zusatzinformation ist das eine befremdliche Verdrehung dessen, was die Angeklagte tatsächlich zum Ausdruck bringen wollte. Diese einseitige Auslegung, die andere mögliche Auslegungen nicht einmal in Betracht zieht, verstößt aus Sicht von Marie-Therese Kaiser gegen die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur freien Meinungsäußerung und verletzt somit ihr Grundrecht aus Art. 5 GG. Daher  hat sie am heutigen Tag, dem 18.10.2024, Verfassungsbeschwerde https://drive.google.com/file/d/1AVqKzCqyXqaOAqrf0Glqphp3CPCJrjpN/view?usp=drive_link eingelegt.

Dr. Björn Clemens, Rechtsanwalt

  

Montag, 29. Juli 2024

 

Unterlassungsprozess Dr. Nagels/Matthias Helferich MdB

 

Am 01. August 2024, 13.00 Uhr wird es vor dem Oberlandesgericht Köln (Saal 144) zur mündlichen Verhandlung in einem Unterlassungs-Prozess zwischen dem ehemaligen Funktionär der Republikaner Dr. Robert Nagels und dem Bundestagsabgeordneten Matthias Helferich, AfD kommen. Nagels begehrt von Helferich die Unterlassung einer Äußerung, die ihn mit einer angeblichen Tätigkeit für den Verfassungsschutz in Verbindung bringt. Maßgeblich stört er sich daran, dass man ihm vorwirft, er sei „gegen rechts“ eingesetzt worden. Die Kontakte zum Geheimdienst an sich bestreitet Nagels nicht nur nicht, sondern hat sie selbst im Jahre 2009 in einem Gerichtsverfahren vor dem LG Düsseldorf gegen den Produzenten rechter Musik, Torsten Lemmer öffentlich eingeräumt. Nunmehr zieht er sich aber darauf zurück, lediglich in seiner Bundeswehrzeit linke Studenten beobachtet zu haben. Die geschäftlichen Kontakte zwischen Nagels und Lemmer waren über Jahre ausgesprochen intensiv, allerdings hat sich Nagels immer als Finanzier im Hintergrund gehalten.

 

Nach Auffassung von Matthias Helferich und dessen Rechtsbeistand Dr. Björn Clemens sind die Behauptungen von Dr. Nagels unglaubhaft, zumal er gegenüber dem Gericht eine politische Selbstverortung als gemäßigter Zeitgenosse vorgenommen hat, die nicht den Tatsachen entspricht. Nagels war in der Zeit seiner Mitgliedschaft bei den Republikanern als Scharfmacher bekannt, der die Partei auf einen möglichst extremen Rechtskurs bringen wollte. In einem Interview mit der Zeitschrift Playboy 1992 hatte er zudem das allgemeine Wahlrecht in Frage gestellt und damit die Partei in ein schlechtes Licht gesetzt. Schließlich hat er für einen Parteitag 1993 eine Sicherungstruppe aus dem Umfeld der Kampfsportschule Hak-Pao in Solingen organisiert, aus jenen Kreisen also, die für den Mordanschlag auf ein von fünf Türken bewohntes Haus verantwortlich waren. Diese Kampfsportschule ihrerseits stand unter dem Einfluss eines VS-Mannes. Nach Ansicht von Helferich schließt sich hier der Kreis. Das Verhalten von Dr. Nagels entspricht dem, was allgemein als Zersetzung beschrieben wird. Auch seine jüngsten Versuche, im AfD-Kreisverband Duisburg, der für ihn organisatorisch unzuständig ist, Fuß zu fassen, nachdem er zuvor in Oberhausen gescheitert war, ist symptomatisch.

 

Helferich und sein Rechtsbeistand haben umfangreiches Material zusammengetragen, das die fragwürdige Rolle, die Nagels über Jahre im rechten Spektrum spielte, erhellt. Es handelt sich um größtenteils frei zugängliche Dokumente, in denen immer wieder auch das V-Mann-Thema behandelt wird. Demnach ist die streitbefangene Äußerung, juristisch betrachtet, mindestens eine plausible Schlussfolgerung. Ob sie als zulässiges Werturteil anerkannt werden wird, wird von der Bewertung der vorgelegten Tatsachen durch das Gericht und ihrer Indizwirkung abhängen. Aus Sicht von Matthias Helferich besteht jedenfalls eine hohe Indiziendichte, die seine Bewertung deckt.             

 

Matthias Helferich MdB/Dr. Björn Clemens, RA, 29.07.2024

Freitag, 5. Mai 2023

 EILMELDUNG: 

Erfolgreicher Rechtskampf gegen Ausreiseverbote


In den letzten Tagen wurden zahlreiche Bürger, die an einem Kampfsport-Event (European FightNight) in Budapest teilnehmen wollten, mit staatlichen Verbotsmaßnahmen überzogen, um sie an der Ausreise zu hindern. Dabei handelte es sich um drei Fallgruppen: Zum einen begrenzten städtische Behörden für die Dauer des Events, den 06. und 07. Mai, die Personalausweise oder Reisepässe der Betroffenen räumlich, zum anderen verhängten Landespolizeibehörden Meldeauflagen, und zum dritten untersagten Kräfte der Bundespolizei unmittelbar an Grenzübergängen die Ausreise bzw. sprachen dort auch noch Meldeauflagen aus. Der rechtliche Ansatzpunkt war jedes Mal, dass die Personen durch ihre Teilnahme an der Sportveranstaltung des rechten Spektrums angeblich das Ansehen der Bundesrepublik Deutschland gefährden könnten. Das Passgesetz lässt in besonders gelagerten Ausnahmefällen ein solches Vorgehen zu.  

Dagegen wurden vor zahlreichen deutschen Verwaltungsgerichten Eilverfahren geführt, und wie es derzeit (Freitag, den 05.05.2023, 16.30 Uhr) aussieht, rundheraus gewonnen. Im Falle der von der Stadt Dortmund ausgesprochenen Verfügungen gingen die Rechtsstreite bis zum Oberverwaltungsgericht NRW in Münster, das wie die Vorinstanz, das VG Gelsenkirchen, zu der Ansicht kam, dass eine Gefährdungslage, die ein Ausreiseverbot rechtfertigen könnte, nicht bestehe. Grund war auch, dass das Gastland Ungarn keinerlei Bedenken gegen die Veranstaltung geltend gemacht hatte. Die Ausreise darf also nicht behindert werden, was aus dem Gesichtspunkt des allgemeinen Gleichheitssatzes aus Artikel 3 GG auch für diejenigen gilt, die nicht geklagt haben. Die Hauptsacheverfahren, in denen die Rechtslage eingehender geprüft werden kann, stehen natürlich noch aus. 

Die Frage, ob es dem Ansehen der Republik möglicherweise eher schaden könnte, wenn hochrangige Politiker in steter Regelmäßigkeit Sprachfehler in ihre - auch international beachteten - Statements einbauen, spielte für die Entscheidungen keine Rolle. 

u.a.: OVG Münster 19 B 466/23 zu VG Gelsenkirchen 17 L 614/23

Rechtsanwalt Dr. Björn Clemens


Donnerstag, 25. August 2022

URTEIL IM REVISIONSVERFAHREN LÜBCKE

Der Bundesgerichtshof hat heute  (25.08.2022) das Urteil des OLG Frankfurt in dem Mordprozess Lübcke in allen Punkten bestätigt. Damit ist insbesondere der Mitangeklagte H. vom Vorwurf der Beihilfe zum Mord rechtskräftig freigesprochen. Die von der Verteidigung von Anfang an vertretene Auffassung, dass die Sachlage nichts für eine Beteiligung des Nebenangeklagten hergab, insbesondere unter dem Gesichtspunkt der frahwürdigen Konstruktion der psychischen Beihilfe, hat sich daher als in jeder Hinsicht zutreffend erwiesen. Erst recht gab es keinen Hinweis auf eine noch  weitergehendere Mitwirkung des Nebenangeklagten wie es sich einige Beteiligte als offensichtliche Wunschvorstellung in den Kopf gesetzt hatten. Die ebenfalls bestandskräftige geringfügige Verurteilung von H wegen eines Waffendelikts hält die Verteidigung für falsch, aber angesichts des Freispruchs in dem allein interessierenden Mordvoreutf für verschmerzbar. Der Angeklagte H kann nun mit der Sache abschließen. 

BGH 3 StR 359/21

Donnerstag, 6. Januar 2022


Volkslehrer: Nichtabhilfebeschluss aus Karlsruhe 

Das Bundesverfassungsgericht hat die Verfassungsbeschwerde, die der Volkslehrer gegen seine Verurteilung wegen Volksverhetzung eingelegt hatte, nicht zur Entscheidung angenommen und den diesbezüglichen Beschluss auch nicht begründet. Das ist formalgesetzlich korrekt, bedeutet aber faktisch eine Rechtsverweigerung. Denn für den Beschwerdeführer bleibt damit unklar, welche Gründe für Karlsruhe maßgeblich waren. Das ist um so unbefriedigender, als die Instanzgerichte die inkriminierte Äußerung des Volkslehrers in Details rechtlich unterschiedlich verortet hatten. Strafrechtlicher Stein des Anstoßes war seine sinngemäße Äußerung gegenüber Schülern in einer KZ-Gedenkstätte, sie sollten nicht alles glauben, was sie dort hörten. Nachfolgend wird der vollständige Inhalt der Verfassungsbeschwerde vom August 2021 wiedergegeben.    


In dem Strafverfahren

AG Dachau   2 Cs 12 Js 12386/19

LG München II 6 Ns 12 Js 12386/19

Bayerisches Oberstes Landesgericht 207 StRR 241/21

 

 gegen Nikolai Nerling wegen Verurteilung gemäß § 130 Absatz 3 Alt. 2 und 3 StGB

 lege ich Namens und mit Vollmacht des Nikolai Nerling

 

    Verfassungsbeschwerde


gegen den Beschluss des BayOLG vom 25.04.2018, zugegangen am 09.07.2021

und

gegen das dadurch rechtskräftig gewordene Urteil des Landgerichts München II 6 Ns 12 Js 12386/19 vom 14.01.2021,

 

sowie gegen das Urteil des Amtsgerichts Dachau 6 Cs 12 Js  12386/19 vom 09.12.2019 ein.

 

Die Entscheidungen verletzen den Beschwerdeführer (nachfolgend Bf.) in seinen Grundrechten, seine Meinung frei zu äußern, aus Art. 5 Absatz 1 Satz 1 Hs. 1 GG, sowie aus Art. 3 Absatz 3, 9. Alt. GG.

 

Ich beantrage, den angefochtenen Beschluss und die angefochtenen Urteile aufzuheben.

  

Begründung:

 

Die Bf. ist geschieden und arbeitet als freier Journalist und Vlogger. Dabei führt er den Künstlernamen „Der Volkslehrer“. Er lebt von Spenden.

 

Nach seinem Studium arbeitete der Bf. von 2006 bis 2009 zunächst als Lehramtsreferendar, sodann bis 2018 als Realschullehrer an der Vineta-Grundschule in Berlin-Gesundbrunnen.

 Am 04.12.2019 hielt er sich mit dem gesondert Verfolgten S.Z. auf dem Gelände der Gedenkstätte des Konzentrationslagers Dachau auf, um dort einen zur Veröffentlichung im Internet gedachten Videofilm zu drehen, in dem sich der Bf. gegen die von ihm als Schuldkult bezeichnete Erinnerungskultur zu den Verbrechen des Nationalsozialismus äußern wollte. Der Bf. trat als Sprecher auf, der Mitangeklagte führte die Kamera. Während dieser Zeit hielt sich auch eine Gruppe von 12 bis 15 Schülern des Gymnasiums Kirchseeon auf dem Gelände auf, die zusammen mit der Referentin des Max-Mannheimer-Instituts, der Zeugin Gruberova, die Gedenkstätte besuchten. Die Zeugin erkannte den Bf., aber sie kam nicht auf seinen Namen, so dass sie die Schüler bat, ihn im Internet zu recherchieren. Dem kamen die Schüler nach und fanden heraus, dass der Bf. der Volkslehrer sei. Um das bestätigt zu bekommen, fragte sie ihn, ob er der Volkslehrer sei, was der Bf. zutreffend bejahte. Sie sagte daraufhin, er sei rechtsradikal, worauf hin er antwortete, das stimme, und rechts käme von richtig. Sodann kam es zu den inkriminierten Äußerungen, welche das Amtsgericht wie folgt feststellte:   

 

„Mit den nachfolgenden Äußerungen gegenüber der Schülergruppe leugnete und verharmloste der Angeklagte Nerling zur Beeinflussung der Schüler bewusst und gewollt Ausmaß und Folgen der nationalsozialistischen Gewaltmaßnahmen zum Nachteil der europäischen Juden in der Zeit von 1933 bis 1945 bestehenden Konzentrationslager in Dachau, indem er ausführte, dass „alles Quatsch/eine Lüge sei, sie nicht alles/das meiste glauben sollten, was ihnen hier in der Gedenkstätte gesagt werde und dass sie hier manipuliert würden.“ (S. 4 und 5 des Urteils)

 

Demgegenüber traf das Landgericht München II folgende Feststellungen:

 

„Im Rahmen dieser Diskussion äußerte der Angeklagte Nerling sinngemäß, die Schüler sollten nicht alles glauben, was hier erzählt würde.“ (S. 8 des Urteils)

 

Feststellungen zu dem, was den Besuchern in der Gedenkstätte gesagt bzw. gezeigt wurde, zu Schautafeln, Filmen, sonstigen Informationen, die die Besucher dort erhalten können traf das Amtsgericht überhaupt nicht, und das Landgericht nur rudimentär. Es fasste dazu in seiner Beweiswürdigung den Inhalt der Aussagen der Zeugin Gruberova zusammen (S. 10):

 

„Das Seminar hätte die Geschichte des Konzentrationslagers Dachau und auch allgemein die Geschichte des Holocaust zum Gegenstand. Die Geschichte der jüdischen Häftlinge im Konzentrationslager Dachau werde dabei von Anfang an thematisiert. Ein Viertel der Häftlinge seien Juden gewesen, allein nach der Pogromnacht 1938 seien     11.000 Juden im Konzentrationslager Dachau Inhaftiert worden. Insgesamt seien in Dachau ca. 206.000 Personen inhaftiert gewesen, von denen über 41.000 gestorben seien. Jeder Dritte Umgekommene sei Jude gewesen, ln den zu Dachau gehörenden Außenlagem habe es fast nur jüdische Häftlinge gegeben. Dort habe die Todesrate 80 % betragen. Der Holocaust habe nicht nur in den Gaskammern stattgefunden, sondern auch durch die in den Lagern vollzogene "Vernichtung durch Arbeit."

 

Es sei allgemein bekannt, dass es in Dachau eine Gaskammer gab. Die Dokumente zu ihrer Verwendung seien vernichtet worden, es gebe jedoch eine Aussage eines Häftlings, dass er Leichen aus der Gaskammer obduziert habe“.

 

Das Amtsgericht davon aus, dass die inkriminierte Äußerung  des Bf. nicht unter den Schutzbereich des Art. 5 GG falle. Es prüfte das allerdings nur anhand der Frage, ob mit ihr der öffentliche Friede gestört sei. Eine eigenständige Auseinandersetzung mit der Dogmatik des Art. 5 GG findet nicht statt.

 

Demgegenüber prüft das Landgericht diese Frage. Es geht dabei zutreffend von dem durch das Bundesverfassungsgericht (BVerfGE 93, 293, 300ff) festgelegten Auslegungsmaßstab aus:

 

„Bei der Bewertung der Äußerung berücksichtigte die Kammer, dass im Hinblick auf die wertsetzende Bedeutung des Grundrechts der Meinungsfreiheit eine den objektiven Sinngehalt der Äußerung erfassende Deutung unerlässlich ist und eine zur Verurteilung führende Deutung nicht zugrunde gelegt werden darf, ehe andere Deutungsmöglichkeiten ausgeschlossen wurden. Kriterien für die Auslegung sind der Wortlaut, der sprachliche Kontext der Äußerung sowie die Begleitumstände der Äußerung. Nach diesen Maßstäben lässt sich die  Äußerung des Angeklagten Nerling nur im o.g. Sinn verstehen.

 

Schon nach dem Wortlaut der Äußerung man soll/muss nicht alles glauben, was (hier) erzählt wird, drückt diese aus, dass das, was erzählt wird – jedenfalls teilweise – unrichtig ist.

 

Nach dem Kontext der Äußerung – auf dem Gelände der Gedenkstätte des Konzentrationslagers, vor einer Schülergruppe – kann es sich bei dem, was „erzählt“ wird, nur um den Inhalt der Führung durch die Gedenkstätte handeln. Nach der Vorstellung eines unvoreingenommenen Publikums beinhaltet eine solche Führung die Geschichte des Konzentrationslagers Dachau, und dass dort auch Juden inhaftiert waren. Des weiteren gehört dazu die Geschichte des Nationalsozialismus, und in diesem Rahmen auch der Holocaust.

 

Zum Kontext gehört zudem, dass der Angeklagte ein öffentlich bekannter, sich selbst so bezeichnender, Rechtsradikaler ist. Zum Zeitpunkt seiner Äußerung war dies auch den Schülern, aufgrund des Wortwechsels mit der Zeugin Gruberova ... bekannt.

 

Zum Kontext der Äußerung gehört weiter, dass sie auf dem Gelände eines früheren Konzentrationslagers erfolgte.

 

Schließlich gehört zum Kontext, dass der Angeklagte die Zeugin G kurz nach der fraglichen Äußerung fragte, ob sie Jüdin sei.

 

Damit engt sich das Verständnis der fraglichen Äußerung darauf ein, dass hier unrichtige Dinge über den Völkermord an den europäischen Juden erzählt würden. Es ist nicht ersichtlich, welche anderen Tatsache dessen, was „hier erzählt“ werde, der Angeklagte sonst als unrichtig bezeichnen wollte, als die Tatsache des Holocausts. Auch die hierzu befragten Zeugen haben die Äußerung in diesem Sinne verstanden. Der Angeklagte beschränkte sich ... gerade nicht darauf, die Schüler zum kritischen Hinterfragen anzuregen, sondern er bekundete, dass nicht alles stimme, was hier erzählt werde. Er regte sie also nicht an, das Gehörte zu prüfen, sondern gab bereits vor, dass es unrichtig sei. Eine den Holocaust leugnende Aussage ist als erwiesen unwahre Behauptung nicht durch die Meinungsfreiheit geschützt.“   

 

 

Das Landgericht kommt also in Übereinstimmung mit dem Amtsgericht zu dem Ergebnis, dass der Bf. den Holocaust gemäß § 130 Absatz 3, 2. Alt StGB leugnete.

 

Das BayOLG greift diese Maßstäbe auf, wobei es als reine Rechtsinstanz tatbestandlich zugrunde legt, das der Bf. (nur) sinngemäß gesagt habe, die Schüler sollten nicht alles glauben, was ihnen in der Gedenkstätte erzählt würde.

 

Es bezieht die Eigenschaft des Bf. als „Volkslehrer“ ebenso in seine Würdigung ein, wie den örtlichen Kontext der Äußerung auf dem Gelände der Gedenkstätte. Ferner bezieht es die vermeintlichen Kommentare des Bf. auf, die er während der Filmarbeiten gemacht haben soll. Hierzu schreibt es:

 

„Auch wenn die Strafkammer keine Feststellungen zu dem Inhalt der Kommentare des Angeklagten Nerling treffen konnte, drängt sich dieser Teil der Urteilsschilderungen dem Revisionsgericht als weitere Provokation des Angeklagten vor einem eigenen rechtsextremistischen Hintergrund auf.“ (S. 21)

 

 

Schließlich kommt es zu dem Ergebnis, dass es dem Bf. darum ging, den Genozid an den europäischen Juden zu bagatellisieren.

 

Es kommt dennoch zu einer anderen Rechtswürdigung, indem es urteilt, der Bf. habe mit seiner Äußerung den Holocaust gemäß § 130 Absatz 3, 3. Alt. verharmlost.

 

Diese Auslegungen halten einer verfassungsrechtlichen Prüfung nicht stand. Denn die richtige dogmatische Grundlage (s.o.) wird bei der Auslegung der Äußerung nicht beachtet.   

 

 

Der Revisionsbeschluss leidet zunächst darunter, dass er das zur Verurteilung führende Gesetz austauscht, aber die verfassungsrechtliche Bewertung des Landgerichts beibehält. Das ist schon deshalb nicht tragfähig, da zwischen Leugnen und Verharmlosen nicht nur ein Unterschied hinsichtlich des Unrechtsgehaltes besteht, sondern weil Leugnen bedeutet, die historischen Tatsachen in Abrede zu stellen, während Verharmlosen darin besteht, sie zwar als Tatschen anzuerkennen, aber in ihrer Schwere anders zu beurteilen als vom Gesetzgeber definiert wird. Ob etwas schlimmer, gleich schlimm oder weniger schlimm ist als andere Vorgänge, ist ein Werturteil.  

 

Beide Entscheidungen verstoßen darüber hinaus gegen zwei weitere Auslegungsgrundsätze, deren richtige Anwendung aber zu dem Ergebnis geführt hätte, dass der Äußerung des Bf. sehr wohl die Mehrdeutigkeit zukommt, die zu einem Freispruch führen musste.

 

Erstens bleibt offen, worauf sich die Äußerung des Bf. überhaupt bezieht. Hier hätten sich mehrere Fragen aufgedrängt. Denn in der Gedenkstätte werden den Besuchern historische Inhalte vermittelt. Also kann der Bf. diese Vermittlung als das gemeint und kritisiert haben, was nicht zur Gänze zu glauben sei. Oder aber er kann die historischen Tatsachen selber gemeint haben. Das OVG Münster hat im Beschluss 21 B 1549/99 vom 16.11.1999 ausdrücklich eine solche Differenzierung zwischen dem historischen Geschehen und seiner Aufarbeitung in der Gegenwart getroffen (S. 3 Mitte).

 

 

Wenn er die Vermittlung, also die Präsentation durch die Gedenkstätte und/oder durch die Referentin gemeint haben sollte, dann wäre zu prüfen gewesen, wie angemessen oder unangemessen eine solche Kritik war. Dazu aber gibt es keine Feststellungen, weil die Gerichte darauf gerichtete Tatsachen nicht bzw. nur ansatzweise erhoben haben.

 

Zwar wird in der Beweiswürdigung des landgerichtlichen Urteils (S. 10) mitgeteilt, was Gegenstand des  Seminars der Schülergruppe, an welche der Bf. seine Äußerung richtete, war: nämlich die Geschichte des Holocausts im Allgemeinen und die diejenige des KZ Dachau im Speziellen. Aber genau das führt dazu, dass der Angeklagte sowohl das eine als auch das andere mit seinen Worten gemeint haben könnte. Ferner könnte er sie anstelle der historischen Vorgänge an sich auf die Präsentation bezogen haben, die die Besucher in der Gedenkstätte bzw. in dem Seminar erhalten. Die Möglichkeiten sind variabel. Die angefochtene Urteile haben es unterlassen hierzu Feststellungen zu treffen. Außerdem sind diese Angaben zu wenig aussagekräftig, als dass sich daraus ableiten ließe, was den Schülern tatsächlich dargeboten wurde. Jedenfalls ist nicht auszuschließen, dass sie durch das Seminar auch verzerrte oder falsche Informationen bekamen. Es ist nicht feststellbar.

 

Weil somit offen geblieben ist, worauf der Bf abstellte – ob auf historische Tatsachen oder auf die Informationen in der Gedenkstätte und im Seminar - muss auch offen bleiben, was er aussagen wollte, und wenn das offen ist, kann nicht festgestellt werden, ob seine Aussage nur so ausgelegt werden kann, das sie strafbar ist. Das gilt um so mehr, als das Landgericht als maßgebliche letzte Tatsacheninstanz die Aussage des Bf. nur sinngemäß ermitteln konnte. Damit bleibt also unter Anwendung des Zweifelsgrundsatzes mindestens eine Auslegung seiner Worte übrig, die nicht zur Strafbarkeit führt.  

 

Zwar scheint das Landgericht die o.g. Differenzierung zu kennen, wenn es feststellt (S. 18),

 

„... nach dem Kontext der Äußerung kann es sich bei dem, was erzählt wird, nur um den Inhalt der Führung durch die Gedenkstätte handeln.“

 

Aber dieser Inhalt wird nicht präzise mitgeteilt. Vielmehr gehen die Gerichte ohne weiteres davon aus, dass dieser Inhalt (also der Darbietung) der historischen Wahrheit entspricht. Das muss nicht zwingend so sein. Denn anerkanntermaßen war Dachau kein Vernichtungslager wie Auschwitz oder Treblinka. Es wurden Menschen ermordet, aber nicht in der industriellen Form wie in den genannten. Die Gerichte haben keinen Beweis darüber erhoben, ob die Führung insoweit richtige Fakten vermittelte, denn sie haben, um es zu wiederholen, darüber nur zusammenfassen, nicht im Detail, erhoben, was überhaupt vermittelt wird. Das kann richtig, überwiegend richtig, teilweise richtig aber auch (teilweise) falsch gewesen sein.  

Zweitens ist es verfassungsrechtlich unzulässig, den politischen Hintergrund des Bf. in die Auslegung der Äußerung einzubeziehen. Das hat das Bundesverfassungsgericht beispielsweise in seinem Beschluss 1 BvQ 43/19 vom 15.09.2019 entschieden, wo es unmissverständlich klarstellte, dass die Äußerung auf einem Plakat einer politischen Partei aus sich selbst heraus zu interpretieren sei, und nicht aus deren Parteiprogramm (in dem Falle der NPD). Gegenteiliges verstößt auch gegen Art. 3 Absatz 3, 9. Alt. GG, wonach niemand aufgrund seiner politischen Anschauungen benachteiligt werden darf. Darauf laufen die angefochtenen Entscheidungen jedoch hinaus. Denn wenn die Äußerung des Bf. deshalb in einer bestimmten Wiese zu interpretieren (und somit vom Anwendungsbereich des Art. 5 GG auszunehmen) sei, weil er rechts sei, heißt das nichts anderes, als dass er die selbe Äußerung hätte tun dürfen, wenn er aus dem linken Spektrum käme. Das kann nicht rechtens sein.  

 

Daher sind die angegriffenen Entscheidungen aufzuheben.

 

 

 

 

Dr. Björn Clemens, RA