Tunnel am Landgericht - Bochumer Impressionen
Wie jeden Morgen, soll am 24. April um 08.52 Uhr auf Gleis 17 des Düsseldorfer Hauptbahnhofes der ICE nach Berlin abfahren. Zwischenhalt Bochum. Und wie bei jeder Fahrt fahre ich zweiter Klasse. Für manche Kollegen mag es zum fragwürdigen Nimbus gehören, erster Klasse zu fahren. Nutzen bringt er indes keinen. Jedenfalls bringt die „upper class“ keinen Zeitgewinn. Ehrenwerter ist daher das angebliche Motto eines ehemaligen Oberhauptes der siebtreichsten deutschen Familie, der auf die Frage, warum er denn immer nur zweiter Klasse fahre, geantwortet haben soll: „weil es keine dritte gibt.“ Darin spiegelt sich preußische Bescheidenheit. Ausreichend ist die Klasse im Intercity ohnehin. Am 24. April entpuppt sich solche Standhaftigkeit als Fehler: Am ersten Schultag nach den Osterferien fluten Schülergruppen den Zug. In Düsseldorf, in Duisburg, in Essen. Die Klassenfahrt scheint für den einen oder anderen Lehrer ein willkommenes Mittel, die unterrichtsfreie Zeit zu verlängern. Das bedeutet zwei mal den Platz zu wechseln, der jeweils reserviert war, natürlich ohne dass es ordnungsgemäß angezeigt worden wäre.
Bochum als Stadt ist besser als ihr Ruf, wenn auch natürlich
für eine Euphorie, wie sie Herbert Grönemeyer verbreiten will, kein Grund
besteht. Immerhin ist der Bahnhofsvorplatz sauberer und es zeigen sich weniger
Kopftücher als in der Landeshauptstadt, Mumien keine. Das Landgericht hingegen
ernüchtert. Es befindet sich in einem Gesamtkomplex mit dem Amtsgericht. Vom
Haupteingang führt ein geduckter, linoleumbedeckter Flur zum Anbau mit dem
kalten Charme der Siebziger. An einer Art Foyer liegen die Verhandlungssäle. Einige
von ihnen, unter anderem C 47, haben keine Fenster, da der Raum durch einen
Fluchtgang von der Außenwand des Gebäudes abgeschirmt wird. Gewiss hielten das
manche Leute für architektonisch gelungen. Ein langer Verhandlungstag drückt
aber in einem solchen Kunstlichtbunker aufs Gemüt, noch dazu, da er, wie so
viele, die reine schmucklose Funktionalität verkörpert. Es sollte aber kein
langer Verhandlungstag werden: einer der zwei Angeklagten ist nicht erschienen.
Die Sache muss trotzdem förmlich aufgerufen werden. Der linke Schöffe trägt eine Art Anglerweste aus Stoff zu einer ausgelutschten Hose. In
dem der Verteidigung zugewandten Ohr prangt ein klobiger Tunnel-Ohrring. Der
Mann ist nicht mehr siebzehn, auch nicht siebenundzwanzig, wirkt eher wie ein
Siebenundvierziger, der wie siebenundfünfzig aussieht. Ob hier etwas deplaciert
werden könnte, scheint in der Kammer nicht erörtert zu werden. Zwar schreibt
die Strafprozessordnung würdiges Auftreten nicht vor, steht ihm aber auch nicht
entgegen.
Zu Beginn wird ein Berufsanfänger für seinen kommenden
Richterdienst vereidigt. Die „Zeremonie“ ist so nichtssagend und
langweilig, wie das Interieur des Saales. Die knappe Formel ist schnell herunter
genuschelt, ein „so wahr mir Gott helfe“ nicht enthalten, war auch nicht
ernsthaft zu erwarten. Der Kammervorsitzende wünscht viel Spaß bei der Arbeit. Zwar
verpflichtet die Strafprozessordnung nicht zur feierlichen Atmosphäre bei der
Einführung eines Richters, steht ihr aber auch nicht entgegen. Dass die
Richtertätigkeit etwas Erhabenes sein könnte, etwas das dem Menschen,
insbesondere jenem, der zu erwarten hat, dass man ihm sein Fehlverhalten
mittels eines Strafurteils verdeutlicht, Respekt abnötigt, legt die Atmosphäre
nicht nahe.
Wenigstens geht der Vorsitzende, ein routinierter
und in sich ruhender Mann, souverän mit der prozessualen Situation um. Nachdem
der nicht erschienene Angeklagte von der Polizei an seinem Wohnsitz auch nicht
angetroffen wird, ergeht Haftbefehl, eine angemessene Entscheidung, die der Angeklagte
sich selbst zuzuschreiben hat. Schluss für heute.
In der Kantine ein Hüne mit Glatze, Salafistenbart und
zwei Ohrtunneln, die den Schöffen in den Schatten stellen. Er ist aber (hoffentlich
?!) kein Salafist, sondern ein Justizwachtmeister; jedenfalls trägt er eine
entsprechende Uniform. Würdiges Auftreten und die Strafprozessordnung…, wir sagten es bereits.
Aber sie steht ihm auch nicht entgegen!
Der nächst erreichbare Zug zurück ist der Regionalexpress
um 12.55 Uhr. Mittags ist viel unangenehmes, lautes Volk unterwegs. Pöbelgefahr. ich fahre
erster Klasse.