Volkslehrer: Nichtabhilfebeschluss aus Karlsruhe
Das Bundesverfassungsgericht hat die Verfassungsbeschwerde, die der
Volkslehrer gegen seine Verurteilung wegen Volksverhetzung eingelegt hatte,
nicht zur Entscheidung angenommen und den diesbezüglichen Beschluss auch nicht
begründet. Das ist formalgesetzlich korrekt, bedeutet aber faktisch eine
Rechtsverweigerung. Denn für den Beschwerdeführer bleibt damit unklar, welche
Gründe für Karlsruhe maßgeblich waren. Das ist um so unbefriedigender, als die
Instanzgerichte die inkriminierte Äußerung des Volkslehrers in Details rechtlich
unterschiedlich verortet hatten. Strafrechtlicher Stein des Anstoßes war seine
sinngemäße Äußerung gegenüber Schülern in einer KZ-Gedenkstätte, sie sollten
nicht alles glauben, was sie dort hörten. Nachfolgend wird der vollständige
Inhalt der Verfassungsbeschwerde vom August 2021 wiedergegeben.
In dem Strafverfahren
AG
Dachau 2 Cs 12 Js 12386/19
LG München II 6 Ns 12 Js 12386/19
Bayerisches Oberstes
Landesgericht 207 StRR 241/21
gegen Nikolai
Nerling wegen Verurteilung gemäß § 130 Absatz 3 Alt. 2 und 3 StGB
lege
ich Namens und mit Vollmacht des Nikolai Nerling
Verfassungsbeschwerde
gegen
den Beschluss des BayOLG vom 25.04.2018, zugegangen am 09.07.2021
und
gegen das dadurch
rechtskräftig gewordene Urteil des Landgerichts München II
6 Ns 12 Js 12386/19 vom 14.01.2021,
sowie
gegen das Urteil des Amtsgerichts Dachau 6 Cs 12 Js 12386/19 vom 09.12.2019 ein.
Die
Entscheidungen verletzen den Beschwerdeführer (nachfolgend Bf.) in seinen
Grundrechten, seine Meinung frei zu äußern, aus Art. 5 Absatz 1 Satz 1 Hs. 1 GG,
sowie aus Art. 3 Absatz 3, 9. Alt. GG.
Ich
beantrage, den angefochtenen Beschluss und die angefochtenen Urteile
aufzuheben.
Begründung:
Die
Bf. ist geschieden und arbeitet als freier Journalist und Vlogger. Dabei führt
er den Künstlernamen „Der Volkslehrer“. Er lebt von Spenden.
Nach
seinem Studium arbeitete der Bf. von 2006 bis 2009 zunächst als Lehramtsreferendar,
sodann bis 2018 als Realschullehrer an der Vineta-Grundschule in Berlin-Gesundbrunnen.
Am
04.12.2019 hielt er sich mit dem gesondert Verfolgten S.Z. auf dem
Gelände der Gedenkstätte des Konzentrationslagers Dachau auf, um dort einen zur
Veröffentlichung im Internet gedachten Videofilm zu drehen, in dem sich der Bf.
gegen die von ihm als Schuldkult bezeichnete Erinnerungskultur zu den
Verbrechen des Nationalsozialismus äußern wollte. Der Bf. trat als Sprecher
auf, der Mitangeklagte führte die Kamera. Während dieser Zeit hielt sich auch eine Gruppe von 12
bis 15 Schülern des Gymnasiums Kirchseeon auf dem Gelände auf, die zusammen mit
der Referentin des Max-Mannheimer-Instituts, der Zeugin Gruberova, die
Gedenkstätte besuchten. Die Zeugin erkannte den Bf., aber sie kam nicht auf
seinen Namen, so dass sie die Schüler bat, ihn im Internet zu recherchieren.
Dem kamen die Schüler nach und fanden heraus, dass der Bf. der Volkslehrer sei.
Um das bestätigt zu bekommen, fragte sie ihn, ob er der Volkslehrer sei, was
der Bf. zutreffend bejahte. Sie sagte daraufhin, er sei rechtsradikal, worauf
hin er antwortete, das stimme, und rechts käme von richtig. Sodann kam es zu
den inkriminierten Äußerungen, welche das Amtsgericht wie folgt feststellte:
„Mit den nachfolgenden Äußerungen gegenüber der Schülergruppe
leugnete und verharmloste der Angeklagte Nerling zur Beeinflussung der Schüler
bewusst und gewollt Ausmaß und Folgen der nationalsozialistischen
Gewaltmaßnahmen zum Nachteil der europäischen Juden in der Zeit von 1933 bis
1945 bestehenden Konzentrationslager in Dachau, indem er ausführte, dass „alles
Quatsch/eine Lüge sei, sie nicht alles/das meiste glauben sollten, was ihnen hier
in der Gedenkstätte gesagt werde und dass sie hier manipuliert würden.“ (S. 4 und
5 des Urteils)
Demgegenüber traf das Landgericht München II folgende
Feststellungen:
„Im Rahmen dieser Diskussion äußerte der Angeklagte
Nerling sinngemäß, die Schüler sollten nicht alles glauben, was hier erzählt
würde.“ (S. 8 des Urteils)
Feststellungen zu dem, was den Besuchern in der Gedenkstätte
gesagt bzw. gezeigt wurde, zu Schautafeln, Filmen, sonstigen Informationen, die
die Besucher dort erhalten können traf das Amtsgericht überhaupt nicht, und das
Landgericht nur rudimentär. Es fasste dazu in seiner Beweiswürdigung den Inhalt
der Aussagen der Zeugin Gruberova zusammen (S. 10):
„Das
Seminar hätte die Geschichte des Konzentrationslagers Dachau und auch allgemein
die Geschichte des Holocaust zum Gegenstand. Die Geschichte der jüdischen
Häftlinge im Konzentrationslager Dachau werde dabei von Anfang an thematisiert.
Ein Viertel der Häftlinge seien Juden gewesen, allein nach der Pogromnacht 1938
seien 11.000 Juden im
Konzentrationslager Dachau Inhaftiert worden. Insgesamt seien in Dachau ca.
206.000 Personen inhaftiert gewesen, von denen über 41.000 gestorben seien.
Jeder Dritte Umgekommene sei Jude gewesen, ln den zu Dachau gehörenden
Außenlagem habe es fast nur jüdische Häftlinge gegeben. Dort habe die Todesrate
80 % betragen. Der Holocaust habe nicht nur in den Gaskammern stattgefunden, sondern
auch durch die in den Lagern vollzogene "Vernichtung durch Arbeit."
Es sei
allgemein bekannt, dass es in Dachau eine Gaskammer gab. Die Dokumente zu ihrer
Verwendung seien vernichtet worden, es gebe jedoch eine Aussage eines Häftlings,
dass er Leichen aus der Gaskammer obduziert habe“.
Das Amtsgericht davon aus, dass die inkriminierte
Äußerung des Bf. nicht unter den Schutzbereich
des Art. 5 GG falle. Es prüfte das allerdings nur anhand der Frage, ob mit ihr
der öffentliche Friede gestört sei. Eine eigenständige Auseinandersetzung mit
der Dogmatik des Art. 5 GG findet nicht statt.
Demgegenüber prüft das Landgericht diese Frage. Es
geht dabei zutreffend von dem durch das Bundesverfassungsgericht (BVerfGE 93,
293, 300ff) festgelegten Auslegungsmaßstab aus:
„Bei der Bewertung der Äußerung berücksichtigte die
Kammer, dass im Hinblick auf die wertsetzende Bedeutung des Grundrechts der
Meinungsfreiheit eine den objektiven Sinngehalt der Äußerung erfassende Deutung
unerlässlich ist und eine zur Verurteilung führende Deutung nicht zugrunde
gelegt werden darf, ehe andere Deutungsmöglichkeiten ausgeschlossen wurden.
Kriterien für die Auslegung sind der Wortlaut, der sprachliche Kontext der
Äußerung sowie die Begleitumstände der Äußerung. Nach diesen Maßstäben lässt
sich die Äußerung des Angeklagten
Nerling nur im o.g. Sinn verstehen.
Schon nach dem Wortlaut der Äußerung man soll/muss
nicht alles glauben, was (hier) erzählt wird, drückt diese aus, dass das, was
erzählt wird – jedenfalls teilweise – unrichtig ist.
Nach dem Kontext der Äußerung – auf dem Gelände der
Gedenkstätte des Konzentrationslagers, vor einer Schülergruppe – kann es sich
bei dem, was „erzählt“ wird, nur um den Inhalt der Führung durch die Gedenkstätte
handeln. Nach der Vorstellung eines unvoreingenommenen Publikums beinhaltet
eine solche Führung die Geschichte des Konzentrationslagers Dachau, und dass dort
auch Juden inhaftiert waren. Des weiteren gehört dazu die Geschichte des
Nationalsozialismus, und in diesem Rahmen auch der Holocaust.
Zum Kontext gehört zudem, dass der Angeklagte ein
öffentlich bekannter, sich selbst so bezeichnender, Rechtsradikaler ist. Zum Zeitpunkt
seiner Äußerung war dies auch den Schülern, aufgrund des Wortwechsels mit der Zeugin
Gruberova ... bekannt.
Zum Kontext der Äußerung gehört weiter, dass sie auf
dem Gelände eines früheren Konzentrationslagers erfolgte.
Schließlich
gehört zum Kontext, dass der Angeklagte die Zeugin G kurz nach der fraglichen
Äußerung fragte, ob sie Jüdin sei.
Damit engt sich
das Verständnis der fraglichen Äußerung darauf ein, dass hier unrichtige Dinge
über den Völkermord an den europäischen Juden erzählt würden. Es ist nicht
ersichtlich, welche anderen Tatsache dessen, was „hier erzählt“ werde, der Angeklagte
sonst als unrichtig bezeichnen wollte, als die Tatsache des Holocausts. Auch
die hierzu befragten Zeugen haben die Äußerung in diesem Sinne verstanden. Der Angeklagte
beschränkte sich ... gerade nicht darauf, die Schüler zum kritischen Hinterfragen
anzuregen, sondern er bekundete, dass nicht alles stimme, was hier erzählt
werde. Er regte sie also nicht an, das Gehörte zu prüfen, sondern gab bereits
vor, dass es unrichtig sei. Eine den Holocaust leugnende Aussage ist als
erwiesen unwahre Behauptung nicht durch die Meinungsfreiheit geschützt.“
Das Landgericht kommt also in Übereinstimmung mit dem
Amtsgericht zu dem Ergebnis, dass der Bf. den Holocaust gemäß § 130 Absatz 3,
2. Alt StGB leugnete.
Das BayOLG greift diese Maßstäbe auf, wobei es als
reine Rechtsinstanz tatbestandlich zugrunde legt, das der Bf. (nur) sinngemäß gesagt
habe, die Schüler sollten nicht alles glauben, was ihnen in der Gedenkstätte
erzählt würde.
Es bezieht die Eigenschaft des Bf. als „Volkslehrer“
ebenso in seine Würdigung ein, wie den örtlichen Kontext der Äußerung auf dem
Gelände der Gedenkstätte. Ferner bezieht es die vermeintlichen Kommentare des Bf.
auf, die er während der Filmarbeiten gemacht haben soll. Hierzu schreibt es:
„Auch wenn die Strafkammer keine Feststellungen zu dem
Inhalt der Kommentare des Angeklagten Nerling treffen konnte, drängt sich
dieser Teil der Urteilsschilderungen dem Revisionsgericht als weitere Provokation
des Angeklagten vor einem eigenen rechtsextremistischen Hintergrund auf.“ (S.
21)
Schließlich kommt es zu dem Ergebnis, dass es dem Bf.
darum ging, den Genozid an den europäischen Juden zu bagatellisieren.
Es kommt dennoch zu einer anderen Rechtswürdigung,
indem es urteilt, der Bf. habe mit seiner Äußerung den Holocaust gemäß § 130
Absatz 3, 3. Alt. verharmlost.
Diese Auslegungen halten einer verfassungsrechtlichen Prüfung
nicht stand. Denn die richtige dogmatische Grundlage (s.o.) wird bei der Auslegung
der Äußerung nicht beachtet.
Der Revisionsbeschluss leidet zunächst darunter, dass
er das zur Verurteilung führende Gesetz austauscht, aber die
verfassungsrechtliche Bewertung des Landgerichts beibehält. Das ist schon
deshalb nicht tragfähig, da zwischen Leugnen und Verharmlosen nicht nur ein
Unterschied hinsichtlich des Unrechtsgehaltes besteht, sondern weil Leugnen bedeutet,
die historischen Tatsachen in Abrede zu stellen, während Verharmlosen darin
besteht, sie zwar als Tatschen anzuerkennen, aber in ihrer Schwere anders zu
beurteilen als vom Gesetzgeber definiert wird. Ob etwas schlimmer, gleich
schlimm oder weniger schlimm ist als andere Vorgänge, ist ein Werturteil.
Beide Entscheidungen verstoßen darüber hinaus gegen zwei
weitere Auslegungsgrundsätze, deren richtige Anwendung aber zu dem Ergebnis
geführt hätte, dass der Äußerung des Bf. sehr wohl die Mehrdeutigkeit zukommt,
die zu einem Freispruch führen musste.
Erstens bleibt offen, worauf sich die Äußerung des Bf.
überhaupt bezieht. Hier hätten sich mehrere Fragen aufgedrängt. Denn in der Gedenkstätte
werden den Besuchern historische Inhalte vermittelt. Also kann der Bf. diese
Vermittlung als das gemeint und kritisiert haben, was nicht zur Gänze zu glauben
sei. Oder aber er kann die historischen Tatsachen selber gemeint haben. Das OVG
Münster hat im Beschluss 21 B 1549/99 vom 16.11.1999 ausdrücklich eine solche
Differenzierung zwischen dem historischen Geschehen und seiner Aufarbeitung in
der Gegenwart getroffen (S. 3 Mitte).
Wenn er die Vermittlung, also die Präsentation durch
die Gedenkstätte und/oder durch die Referentin gemeint haben sollte, dann wäre
zu prüfen gewesen, wie angemessen oder unangemessen eine solche Kritik war.
Dazu aber gibt es keine Feststellungen, weil die Gerichte darauf gerichtete Tatsachen
nicht bzw. nur ansatzweise erhoben haben.
Zwar wird in der Beweiswürdigung des landgerichtlichen
Urteils (S. 10) mitgeteilt, was Gegenstand des Seminars der Schülergruppe, an welche der Bf.
seine Äußerung richtete, war: nämlich die Geschichte des Holocausts im
Allgemeinen und die diejenige des KZ Dachau im Speziellen. Aber genau das führt
dazu, dass der Angeklagte sowohl das eine als auch das andere mit seinen Worten
gemeint haben könnte. Ferner könnte er sie anstelle der historischen Vorgänge
an sich auf die Präsentation bezogen haben, die die Besucher in der
Gedenkstätte bzw. in dem Seminar erhalten. Die Möglichkeiten sind variabel. Die
angefochtene Urteile haben es unterlassen hierzu Feststellungen zu treffen.
Außerdem sind diese Angaben zu wenig aussagekräftig, als dass sich daraus
ableiten ließe, was den Schülern tatsächlich dargeboten wurde. Jedenfalls ist
nicht auszuschließen, dass sie durch das Seminar auch verzerrte oder falsche
Informationen bekamen. Es ist nicht feststellbar.
Weil somit offen geblieben ist, worauf der Bf
abstellte – ob auf historische Tatsachen oder auf die Informationen in der
Gedenkstätte und im Seminar - muss auch offen bleiben, was er aussagen wollte,
und wenn das offen ist, kann nicht festgestellt werden, ob seine Aussage nur so
ausgelegt werden kann, das sie strafbar ist. Das gilt um so mehr, als das
Landgericht als maßgebliche letzte Tatsacheninstanz die Aussage des Bf. nur sinngemäß
ermitteln konnte. Damit bleibt also unter Anwendung des Zweifelsgrundsatzes
mindestens eine Auslegung seiner Worte übrig, die nicht zur Strafbarkeit führt.
Zwar scheint das Landgericht die o.g. Differenzierung
zu kennen, wenn es feststellt (S. 18),
„... nach dem Kontext der Äußerung kann es sich bei
dem, was erzählt wird, nur um den Inhalt der Führung durch die Gedenkstätte
handeln.“
Aber dieser Inhalt wird nicht präzise mitgeteilt. Vielmehr
gehen die Gerichte ohne weiteres davon aus, dass dieser Inhalt (also der
Darbietung) der historischen Wahrheit entspricht. Das muss nicht zwingend so
sein. Denn anerkanntermaßen war Dachau kein Vernichtungslager wie Auschwitz oder
Treblinka. Es wurden Menschen ermordet, aber nicht in der industriellen Form
wie in den genannten. Die Gerichte haben keinen Beweis darüber erhoben, ob die
Führung insoweit richtige Fakten vermittelte, denn sie haben, um es zu
wiederholen, darüber nur zusammenfassen, nicht im Detail, erhoben, was überhaupt
vermittelt wird. Das kann richtig, überwiegend richtig, teilweise richtig aber
auch (teilweise) falsch gewesen sein.
Zweitens ist es verfassungsrechtlich unzulässig, den politischen
Hintergrund des Bf. in die Auslegung der Äußerung einzubeziehen. Das hat das Bundesverfassungsgericht
beispielsweise in seinem Beschluss 1 BvQ 43/19 vom 15.09.2019 entschieden, wo es
unmissverständlich klarstellte, dass die Äußerung auf einem Plakat einer
politischen Partei aus sich selbst heraus zu interpretieren sei, und nicht aus
deren Parteiprogramm (in dem Falle der NPD). Gegenteiliges verstößt auch gegen
Art. 3 Absatz 3, 9. Alt. GG, wonach niemand aufgrund seiner politischen Anschauungen
benachteiligt werden darf. Darauf laufen die angefochtenen Entscheidungen jedoch
hinaus. Denn wenn die Äußerung des Bf. deshalb in einer bestimmten Wiese zu
interpretieren (und somit vom Anwendungsbereich des Art. 5 GG auszunehmen) sei,
weil er rechts sei, heißt das nichts anderes, als dass er die selbe Äußerung
hätte tun dürfen, wenn er aus dem linken Spektrum käme. Das kann nicht rechtens
sein.
Daher sind die angegriffenen Entscheidungen aufzuheben.
Dr. Björn Clemens, RA